Krieg - Ukrainer lebt in Nauheim

Seine Eltern sind in Kiew: Sergey Siradchuk hofft, dass der Schrecken bald vorbei ist

Sergey Siradchuk aus Nauheim hofft, dass seine Landsleute in der Ukraine der russischen Aggression widerstehen und dass seine Eltern und der Cousin in Kiew den Krieg überleben.

 

3.3.22 - Jeden Tag Schreckensmeldungen vom Krieg in Europa. Wie geht ein in Nauheim wohnender Ukrainer damit um, dass seine Verwandten in Kiew Tag und Nacht um ihr Leben fürchten müssen? Was denkt der 42-jährige Mann über Putin? Wie erklärt er sich, was da passiert und von fast der ganzen Welt verurteilt wird?

Ein Treffen mit Sergey Siradchuk. Der Ukrainer lebt in Nauheim in einem Mehrfamilienhaus. Vor elf Jahren ist er mit seiner damaligen Frau nach Deutschland gezogen, vor sechs Jahren wurde ihre Tochter geboren. Er sagt, er sei damals quasi ein Pionier gewesen, also einer der ersten, die sich aus der Ukraine in den Westen aufmachten, um sich beruflich zu ändern.

Zunächst wohnte er in Rüsselsheim. Seit 2015 ist er bei Opel (heute Stellantis) als Ingenieur beschäftigt. Auch sein Bruder lebt in Nauheim. Nicht aber die Eltern. Vater, Mutter und ein Cousin sind in Kiew. „Sie sind gesund“, beschreibt er ihr Befinden und meint ausdrücklich die Physis. Siradchuk befürchtet, dass seelische Schäden nicht absehbar seien.

Die Familie lebe in einem fünfstöckigen Haus ohne Aufzug. Sein Cousin pendele zwischen Wohnung und Keller, um Schutz vor Angriffen zu finden. Seine Mutter schaffe es nicht mehr, andauernd die Treppen hoch und runter zu rennen. Nicht auszudenken, wenn eine Rakete in das Haus einschlägt.

Der Fernsehturm, der vor wenigen Tagen von einem russischen Geschoss getroffen wurde, sei nur einen Kilometer von der Bleibe seiner Eltern entfernt. Ebenso die nun zerstörte Gedenkstätte für von Nazis ermordete Juden. - „Unfassbar“, schüttelt Sergey Siradchuk den Kopf.

Eltern bleiben in Kiew

Seit dem ersten Tag des Krieges versuche ich, meine Eltern davon zu überzeugen, ihr Land zu verlassen“ erzählt er in gutem Deutsch. Doch Mutter und Vater weigerten sich. Den Kontakt zu ihnen könne er über Video-Chats herstellen. „Noch geht das Internet“, erklärt er. Er würde sie gerne überzeugen, zu fliehen. Aber er schafft es nicht und sagt. „Es ist schwer, alte Menschen zu beeinflussen.“

Hinfahren, mitten in den Krieg, kann er nicht. „Wegen der Tochter“, blickt Sergey Siradchuk traurig auf. Und das erste Mal wirkt seine Stimme nicht mehr so gefestigt wie anfangs, als er davon erzählte, dass er sich in einem friedlichen Land ein neues Leben mit guter beruflicher Zukunft aufgebaut hat.

Kaum jemand habe sich vorstellen können, so etwas zu erleben, sagt er. Er habe zunehmend Angst vor einer Eskalation. Es sei zu erwarten, dass Putin die Taktik ändere und alles bombardieren lasse, was sich den Russen in den Weg stelle. „Wie in Syrien oder Tschetschenien. Um zu eliminieren“, sagt Siradchuk.

Im Rückblick auf die Tage, Wochen und Monate vor dem Krieg, in denen Putin seine Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren ließ, wird für den Ukrainer klar: „Wir waren alle blind.“ Die freie Welt habe es versäumt, Regeln zu schaffen, die den Angriff vielleicht hätten verhindern können.

„Jetzt stehen wir vor einem potenziellen Weltkrieg“, warnt Siradchuk, um die für ihn einzige, denkbare Konsequenz zu nennen: „Die einzige Person, die das stoppen kann, ist Putin.“

Putin? Paranoid und krank

Die andere Option, ein militärischer Erfolg der Ukraine, schließt Siradchuk nicht aus. Er weiß, was seine Landsleute zu leisten imstande sind und hofft. Aber es gebe „keine Garantie, dass wir es schaffen“.

Er kämpft mit sich und seiner Stimme, wenn er beschreibt, was den Menschen widerfährt und welcher tödlichen Wucht sie sich entgegenstemmen. Putin beschreibt er als „paranoid“, „kriminell“ und „krank im Kopf“. Er sagt: „Putin ist kein normaler Mensch“. Dieser Mensch sei nicht mit normalen Maßstäben zu begreifen.

Sergey Siradchuk zieht einen Vergleich mit Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ und der permanenten Gefahr durch Tiger Shere Khan, der sich alle zu Untertanen machen will.

„Der Tiger will uns alle fressen“, stellt er die Analogie zu Putin her, der die ganze Welt gegen sich aufbringe und nicht akzeptiere, dass „beim Zerfall der Sowjetunion 15 unabhängige Staaten entstanden sind, die ein Recht auf Selbstbestimmung haben“.

Putins Falle

Putin denke wie früher. „In seinem Kopf gibt es immer noch die Sowjetunion. Das war für ihn ‚die größte Tragödie‘ in der Geschichte“, zitiert Sergey Siradchuk den Machthaber, der versuche, „aggressiv und grausam“ all das einzukassieren, was sich Anfang der 1990-er Jahre in Freiheit gebildet habe.

Die Welt sei in Putins Falle getappt, ist er sicher. Denn für einen Russen gebe es keine Win-win-Situation, wie im Westen. In der russisch-mongolischen Tradition drehe sich alle nur um den eigenen Vorteil, den Sieg, die Okkupation und die pure Kraft, sagt Sergey Siradchuk.

Verhandlungen und verlässliche Abmachungen zählten nicht. Wer Putin nicht folge, müsse mit dem Tod rechnen.

Der Ukrainer sieht sich bestätigt in den hoffnungsvollen, aber zahlenmäßig marginalen Protesten der russischen Bevölkerung. Was aber könnten 6000 Menschen, die auf die Straße gingen, angesichts von 140 Millionen Einwohnern ausrichten, die Putin blind folgten? „Wir müssen diese Mentalität verstehen“, sagt der Ukrainer.

Was tun, wie helfen?

Für sich selbst hat Sergey Siradchuk einen Weg gefunden, seine Angst, den unglaublichen inneren Druck, Wut und Ärger zu kanalisieren. Er versucht, die aufgestaute Energie in Hilfsprojekte zu leiten und ist froh, dass nun allerorten Projekte angelaufen sind, um die Ukraine zu unterstützen.

Er koordiniere solche Spendenaktionen und appelliert an jeden, zu geben, was auch immer benötigt wird - von Medikamenten über Kleidung, Schlafsäcken, Iso-Matten und einfachen Kerzen bis zu Stromgeneratoren jeder Größe. Er bittet vor allem Institutionen und Firmen um einen Beitrag, weil es diesen im Gegensatz zu Privatmenschen vielleicht möglich sei, in größeren Mengen Schutzausrüstung (Helme und schusssichere Westen) zu kaufen, um diese in die Ukraine zu schicken.

Sergey Siradchuk ist gerne bereit, mit jedem, der mehr wissen will, über alles zu sprechen und Fragen zu beantworten. Auch wenn es ihm schwer falle, das Geschehen nüchtern in Worte zu fassen.

Die meiste Zeit klingt er stabil und immer noch zuversichtlich, dass nicht das Allerschlimmste passiert. Es ist zu spüren, dass es dem Mann hilft, sich offensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und darüber zu reden. Die Emotionen sind indes nie ganz zu unterdrücken.

Erst recht nicht, wenn sich Sergey Siradchuk die ukrainische Flagge um die Schulter legt. - Er ringt um Fassung und zeigt stolz das Victory-Zeichen.

 

Kontakt zu Sergey Siradchuk

 

Spendenaufruf

In Nauheim gibt es jetzt eine zügige Möglichkeit, Hilfsgüter zu spenden, die in die Ukraine gebracht werden .
Dazu aufgerufen hat der Friseursalon Albertina.

Gesucht werden vor allem Decken, Schlafsäcke, Babynahrung, Windeln, und Hygieneartikel . Die Sachen können im Salon Albertina in der Bahnhofstraße 22 während den Geschäftszeiten bis Samstag, 5. März, um 13 Uhr abgegeben werden. Am Sonntag werden die Hilfsgüter verladen, damit diese am Montag an die ukrainische Grenze gebracht werden können.

Kontakt für Fragen und Spendenwillige

  • Telefon 0159 – 02 640 548

 


 

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